Die Illusion der Präzision – Kursziele am Aktienmarkt

Jahrzehntelang galten Analysen, Prognosen und Ratings als hilfreiche Entscheidungshelfer am Aktienmarkt. Mittlerweile werden die Expertenmeinungen kritisch gesehen, allem voran Kursziele. Verständlich, bedenkt man die jüngsten Fehleinschätzungen diverser Ökonomen und Investmenthäuser. Allein die Entwicklung des krisengeschüttelten DAX, der seit dem Corona-Tief um rund 110 Prozent zulegen konnte (Stand: Juni 2024), entblößt die Prognosen diverser Analysten. Und dennoch orientieren sich viele Anleger an den Ratschlägen der Profis. Wir verraten Ihnen, warum Sie sich nicht von Kurszielen leiten lassen sollten und Prognosen dennoch sinnvoll nutzen.

Prognose ist nicht gleich Prognose!

Zunächst wollen wir einen Blick auf die Vielseitigkeit von Prognosen werfen. In der Finanzwelt tummeln sich schließlich verschiedene Arten von Prognosen, die teils deutliche, teils weniger deutliche Auswirkungen nach sich ziehen.

Sie möchten direkt in die Praxis springen? Hier geht es zum nächsten Kapitel.

Makroökonomische Trends

Makroökonomie dient im wirtschaftlichen Kontext als ein Oberbegriff. Typische Prognosen aus der Makroökonomie belaufen sich auf das Bruttoinlandsprodukt, den Arbeitsmarkt, das Konsumentenvertrauen und Handelsbeziehungen.

Monetär- und Fiskalpolitik

Notenbanken (Monetärpolitik) und Staaten (Fiskalpolitik) ergreifen regelmäßig Maßnahmen zur Regulierung der Geldmenge, die entweder expansiv oder restriktiv wirken. Prognosen aus diesen Bereichen beziehen sich zum Beispiel auf die Entwicklung von Zinssätzen und -kurven, Anleihenkäufe sowie Offenmarktgeschäfte.

Rohstoffe

Prognosen zur Entwicklung von Rohstoffen beziehungsweise deren Preisen fußen auf vergleichsweise simplen Indikatoren. Hier lautet der Grundsatz: Steigt die Nachfrage, steigt der Preis. Da jedoch auch Aspekte wie Förderquoten und Lagerbestände Rohstoffprognosen einfließen, fallen diese Vorhersagen häufig komplexer aus.

Spezifische Marktprognosen

Hierzu können Prognosen gezählt werden, die gezielte Studien oder Umfragen berücksichtigen. Spezifische Marktprognosen umfassen zum Beispiel Absatzzahlen der Automobilindustrie, politische Entscheidungen und gesellschaftliche Trends wie modische Accessoires.

Indizes

Nahezu jedes Land listet die Wertpapiere der größten Unternehmen in entsprechenden Indizes. Prognosen für Indizes beziehen sich zwar auf die Performance der enthaltenen Werte, werden jedoch häufig als ein Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des jeweiligen Landes verstanden. Erstaunlich: Die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft muss nicht in Korrelation zur Entwicklung des heimischen Aktienmarktes stehen!

Aktien

Börsennotierte Konzerne decken nahezu die gesamte Marktwirtschaft ab, sodass das Umfeld für Aktien-Prognosen besonders fragmentiert ausfällt. Für gewöhnlich erhalten Unternehmen mit einer hohen Marktkapitalisierung (Large Caps) die größte Beachtung. Je nachdem, welche Entwicklung der Analyst der Gesellschaft zutraut, stuft dieser die Aktie mit Buy (Kaufen/Aufstocken), Hold (Halten) oder Sell (Verkaufen/Reduzieren) sowie einem entsprechenden Kursziel ein.

Zugegeben, die obige Liste mag nicht vollständig sein. Sie offenbart jedoch die Vielzahl und die Komplexität von Prognosen. So wird etwa der häufig eintretende Trickle-Down-Effekt ersichtlich. Prognosen zu makroökologische Trends etwa können durchaus Auswirkungen auf Einzelwerte wie Rohstoffe und Aktien haben. Auch Prognosen auf eine restriktive Geldpolitik und damit voraussichtlich steigende Finanzierungskosten (Kreditzinsen) können insbesondere Aktien von Unternehmen mit einer hohen Verschuldung unter Druck bringen. Ein Trickle-Up-Effekt stellt sich übrigens selten ein. So oder so: Die Gretchenfrage lautet, ob Marktteilnehmer der Prognose Glauben schenken oder nicht.

Königsdisziplin Kursziel?

Im Folgenden fokussieren wir uns auf Prognosen in Verbindung mit Aktien. Hier zeichnet sich die Komplexität von Prognosen überdeutlich ab. Analysten legen häufig Schwerpunkte und begründen ihre Kursziele mit konkreten Faktoren. Der erste grundsätzliche Kritikpunkt an Kurszielen lautet deshalb: Analysten können für gewöhnlich nicht sämtliche Faktoren in ihren Prognosen berücksichtigen. Spricht ein Analyst zum Beispiel der Aktie eines Autobauers aufgrund voraussichtlich steigender Absätze und somit steigenden Umsätzen ein höheres Kursziel zu, muss die Aktie keineswegs aufgrund dieses Faktors steigen, auch wenn sich die Prognose als korrekt erweist. Steigen etwa neben den Absatzzahlen auch Löhne oder Rohstoffkosten, verringert sich das Betriebsergebnis.

Eine Frage der Erwartung

Des Weiteren ist der Einfluss von Analysten zu bedenken. Im Beispiel des Autobauers etwa kann die Mutmaßung auf steigende Absätze eine Erwartungshaltung bei Investoren auslösen. Bei verfehlten Erwartungen droht dann ein Abverkauf der Aktie. Dieser Effekt ist selbst bei minimalen Verfehlungen zu beobachten. Doch damit nicht genug: Die Wertpapiere des Autobauers können auch dann fallen, wenn die Prognose des Analysten eintrifft, der Autobauer tatsächlich mehr Autos verkauft und die Umsätze steigen. In diesem Fall heißt es „Sell on Good News“.

Auch wenn Analysten mit ihren Prognosen richtig liegen, so sind die letztendlichen Kursreaktionen keineswegs absehbar. Eine häufig angeführte Erklärung lautet, dass „der Markt“ die jeweilige Entwicklung bereits „eingepreist“ habe. Sicher, solche Reaktionen können Analysten keineswegs vorhersehen. Doch allein die Möglichkeit, dass sie eintreten können, verdeutlicht die Problematik von Prognosen.

Stimmung macht Kurse

Die teils erratischen Marktreaktionen führen zu einem weiteren Punkt. Denn nicht nur Anleger, auch Analysten legen ein immer wieder erkennbares Verhalten an den Tag. Beispielsweise passen einige Experten nahezu blind ihre Kursziele an. Steigen die Kurse, so steigen die Ziele. Fallen die Kurse, so fallen die Ziele. Analysten rennen den Kursen hinterher, so die Kritik. Welch absurde Ausmaße diese Rennerei annehmen kann, belegt die Aktienentwicklung des Brennstoffzellenexperten Plug Power.

Während des Post-Corona-Booms (2020 – 2021) profitierten insbesondere Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien von den starken Liquiditätszuflüssen. Die Aktie der Plug Power Inc. (ISIN: US72919P2020) gehörte zu den unangefochtenen Highflyern dieser Bewegung und fand in nahezu jedem Börsenbrief Erwähnung und auch von namhaften Analysten große Beachtung. Letztere zeigten sich während des Höhenflugs durch die Bank beeindruckt und hoben ihre Kursziele kontinuierlich an.

Verlauf der Kursziele für die Plug Power Aktie. Quelle: Marketscreener.

Im Februar 2021 dann die Wende: Die Plug Power Aktei legte den Rückwärtsgang ein. Die einst felsenfest überzeugten Analysten änderten ihre Meinung und schraubten die Kursziele für den „Vorreiter“ im Wasserstoff-Sektor peu à peu hinunter. Zuletzt bekräftigten die Experten aus dem Hause Morgan Stanley ihre Einschätzung, stuften die Aktie erneut mit Verkaufen ein und senkten ihr Kursziel von 3,00 US-Dollar auf 2,50 US-Dollar. Zwei Jahre zuvor sprach man der Aktie Kurse oberhalb der 50-Dollar-Marke zu. Was war passiert? Zumindest auf der operativen Ebene herzlich wenig!

Seit ihrer Gründung im Jahr 1997 schreibt die Plug Power Inc. Verluste, weist seit jeher eine negative Bruttomarge aus und finanziert sich hauptsächlich durch Kapitalerhöhungen. Allein das Sentiment für Wasserstoff hatte sich Anfang 2021 geändert. Wieder einmal! Die Endlos-Energie sorgt in regelmäßigen Abständen für Hypes, ähnlich wie die Themen Cannabis und 3D Druck, und führt immer wieder zu Kursrallyes von mehreren Hundert Prozent bei den Wertpapieren entsprechender Unternehmen. Die Beobachtung, dass sich ausgebildete, erfahrene und sich ihrer Verantwortung hoffentlich bewusste Experten regelmäßig von den Stimmungsschwankungen zahlreicher Kleinanleger anstecken lassen, stellt die Tragfähigkeit von Kurszielen in aller Deutlichkeit infrage.

Den Vorwurf der Beeinflussung durch Kleinanleger müssen sich Analysten übrigens tatsächlich gefallen lassen. Denn Unternehmen wie die Plug Power Inc. weisen einen hohen Freefloat auf. Aktien dieser Gesellschaften werden also vor allem von Privatpersonen gehandelt und gelten demzufolge als besonders volatil. Übrigens: Mittlerweile haben die, wenigen verbleibenden, Kleinanleger eine Sammelklage gegen das Management der Plug Power Inc. eingereicht. Symbolträchtiger lässt sich die Recherchesorgfalt von Analysten kaum diskreditieren.

Umsatz- und Gewinnentwicklung der Plug Power Inc. Quelle: Traderfox.com

Ein weiteres treffendes Beispiel für das adaptive Verhalten vieler Analysten ist in den jeweiligen Argumentationsmustern zu finden. Getreu dem Motto „lieber mit der breiten Masse falsch, anstatt als Einzelkämpfer richtig liegen“ lassen sich in vielen Analysen häufig übereinstimmende Argumente finden, die für oder gegen eine Kursentwicklung sprechen. Kursziele inbegriffen! Nehmen Marktbeobachter mit einer Prognose hingegen eine konträre Position ein, so werden diese lange ignoriert. Erweist sich die Position dann als korrekt, greifen Analysten die zugrunde liegenden Argumente unverzüglich auf und stellen diese rückblickend als eine stets akzeptierte und logische Tatsache dar.

Konkret ließ sich dieses Verhalten Ende Mai 2024 erkennen, kurz vor Veröffentlichung der Quartalszahlen des PC-Spezialisten Dell. Das Wertpapier der Dell Technologies Inc. (ISIN: US24703L2025) wurde in den Wochen zuvor immer wieder als Gewinner des Trends rund um künstliche Intelligenz hervorgehoben: Innerhalb eines Jahres legte die Aktie knapp 180 Prozent zu. Auch in diesem Fall rannten viele Analysten dem Wert hinterher; schraubten ihre Kursziele kontinuierlich höher.

Lediglich das Investmenthaus Barclays nahm eine kritische Haltung gegenüber der Dell Aktie ein. Begründung: Der Konzern sei zwar ein Profiteur der Implementierung von KI-Chips, die Aktie jedoch in Anbetracht der deutlich schwächeren Margen keineswegs mit anderen KI Aktien vergleichbar. Die Reaktionen auf die Quartalsergebnisse fielen dann tatsächlich negativ aus. Die Dell Aktie verlor im nachbörslichen Handel über 10 Prozent, ebenso wie am darauffolgenden Handelstag. Bereits wenige Stunden nach Vorlage der Quartalsergebnisse nahmen Analysten aus den unterschiedlichsten Häusern, angefangen bei der eher unbedeutenden Raymond James Financial über die Wells Fargo & Company bis hin zum Schwergewicht J.P. Morgan Chase, die Argumentation Barclays auf und korrigierten ihre Kursziele.

Augen auf beim Analyst

Grundsätzlich mögen die meisten Analysten einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund haben. Unter diesen Experten tummeln sich jedoch ebenso Halbwissende, die insbesondere bei unerfahreneren Privatanlegern starke Emotionen hervorrufen. In diesem Zusammenhang lassen sich häufig Interessenskonflikte erkennen, die nicht nur die Glaubwürdigkeit der Prognosen untergraben.

An dieser Stelle sind die zahlreichen Finanzgurus ins Feld zu führen, die sich in den letzten Jahren via Social Media ein Millionenpublikum aufbauen konnten. Ein Kursziel für eine Aktie auszugeben ist legal, legitim und sogar logisch. Viele dieser Persönlichkeiten finanzieren sich über Werbeeinnahmen. Clickbating is King! Ganz anders sieht es bei den Angeboten der Finfluencer aus. Die teils im Ausland ansässigen Personen verlangen horrende Club-Beiträge und/oder generieren via Copy-Trading unfassbare Umsätze auf Kosten ihrer Follower. Letztere fahren aufgrund ihrer begrenzten Liquidität nahezu ausschließlich Verluste ein. Finger weg!

Ein weiteres, wenn auch weniger krasses Beispiel für die Befangenheit von Analysten ist die Fondsmanagerin Cathie Wood. Die mittlerweile 68-Jährige erlangte im Post-Corona-Börsen-Hype weltweite Berühmtheit. Woods Fonds vervielfachten sich! Seit dem Ende des „billigen Geldes“, also seit der Abkehr von Niedrigzinsen, schneiden die Anlagevehikel unterdurchschnittlich ab. Das Flaggschiff, der ARK Innovation ETF, hat seit dem Hoch Anfang 2021 rund 70 Prozent verloren! Einer der Gründe für die Underperformance dürfte die starke Gewichtung der Tesla Inc. sein. Der Elektroautobauer macht derzeit 11,41 Prozent des Portfolios aus, die Tesla Aktie hat sich seit ihrem Allzeithoch mehr als halbiert. Wood hält jedoch an ihrer Prognose fest: Zuletzt rief die Fondsmanagerin ein Kursziel von 2.600 US-Dollar für die Aktie aus. Dies entspräche nach heutigem Stand einer Verdreizehnfachung (+ 1.350 %). Nebenbei: Das untere Preisziel der Tesla Aktie liegt offiziellen Angaben zufolge bei 85 US-Dollar und der Tesla-Bär Danny Moses (Gründer des Moses Ventures Fund) rief zuletzt gar ein Kursziel von 50 US-Dollar aus.

Die einstige Star-Investorin Cathie Wood steht seit geraumer Zeit in der Kritik. Mittlerweile werden die blumigen Prognosen der nach wie vor häufig zitierten Wood belächelt, gelten für manche Anleger gar als ein Kontra-Indikator. Quelle: Wikipedia.org

Die Intention Woods ist unverkennbar: Eigenwerbung für die eigenen Anlageprodukte. Ergo sind die Kursziele der Investorin skeptisch zu sehen. Mit dem Beispiel Cathie Wood endet die Liste der zwielichtigen Prognostiker selbstverständlich nicht. Broker, Magazine und nicht zuletzt Investmentbanken geben sich die größte Mühe, ihre Kursziele möglichst plausibel an Mann und Frau zu bringen. Auch wenn die Aussagen logisch klingen und auf korrekten Daten fußen mögen, so ist neben der Seriosität stets die Motivation des Verfassers der Prognose zu hinterfragen.

Hin und her macht Taschen leer. Und freut den Broker sehr!

Die meisten Analysten verfügen durchaus über Kenntnisse in puncto Unternehmensbewertung. Die Prognosen renommierter Investmenthäuser sind nicht mit dem Scam mancher Finfluencer zu vergleichen! Neutral sind viele dieser Analysen jedoch ebenfalls nicht. Bei sogenannten Sell-Side-Analysen etwa handelt es sich um Reports, die von Brokern, Banken oder ähnlichen Instituten in Auftrag und im Anschluss den eigenen Kunden oder einer angrenzenden Klientel zur Verfügung gestellt werden. Das Research hinter solchen Analysen wirkt tadellos und mag sämtlichen Vorgaben der zuständigen Finanzaufsichtsbehörden entsprechen. Doch der Schein trügt! Sell-Side-Analysten werden schließlich für ihre Tätigkeit und letzten Endes für ihre Empfehlung bezahlt.

Der Interessenskonflikt liegt auf der Hand: Privatinvestoren nehmen die Empfehlungen der Experten wahr und handeln unter Umständen auf deren Geheiß. Banken und Broker profitieren demnach insbesondere dann von Sell-Side-Berichten, wenn diese zum Kaufen oder Verkaufen von Aktien anregen. Neben Ordergebühren winken auch Einnahmen durch den Vertrieb von Finanzinstrumenten, welche wiederum häufig explizit in den Sell-Side-Berichten als „Trading-Tipp“ Erwähnung finden.

Des Weiteren können konkrete Handlungsabsichten hinter einem Sell-Side-Bericht stehen. Denn Banken und vergleichbare Institute handeln ebenso wie deren Kunden mit Wertpapieren, können jedoch nicht ohne Weiteres ihre Positionen veräußern beziehungsweise aufstocken. Die Bestände müssen häufig in Tranchen gekauft/verkauft werden, was nur gelingen kann, wenn sich passende Käufer/Verkäufer finden lassen.

Hier schließt sich der Kreis: Während der Leser eines Sell-Side-Berichts kräftig zulangt und eine positiv dargestellte Aktie kauft, verringern die Auftraggeber nach Veröffentlichung ebendieses Berichts die eigene Position oder aber kaufen dem Privatanleger eine im Sell-Side-Bericht negativ beschriebene Aktie ab. Selbstverständlich können Analysen dieser Art auch zu Überbewertungen eines Wertpapiers führen. In diesem Fall profitiert der Auftraggeber direkt von der Kursbewegung der Aktie, sofern diese in lukrativer Anzahl im eigenen Portfolio vertreten ist.

Parallel zum Markt für Sell-Side-Analysen existiert ein Markt für Buy-Side-Analysen. Dieser ist jedoch kleiner und die Berichte stehen für gewöhnlich (exklusiv) auserwählten Kunden zur Verfügung. Hierbei handelt es sich in der Regel auch um die Auftraggeber, welche die Reports allerdings selten in Umlauf bringen. Buy-Side-Analysen dienen somit häufig internen Anlageentscheidungen.

Das Ratingbusiness – ein Milliardengeschäft!

Die Befangenheit einiger Analysten führt zu einem allgemeinen Aspekt. Analysten werden für das Erstellen ihrer Prognosen bezahlt; Herausgeber profitieren von deren Verbreitung! So steht neben der Zuverlässigkeit auch Notwendigkeit von Prognosen zur Debatte. Sicher, es mag Ausnahmen geben, also leidenschaftliche Analysten, die den Verdienst zugunsten der Qualität zurückstellen. Angesichts der horrenden Nachfrage in diesem Bereich stellen die meisten Beteiligten den wirtschaftlichen Aspekt von Analysen allerdings in den Vordergrund. Masse vor Klasse, so die Geschäftsphilosophie.

Der wirtschaftliche Faktor von Analysen lässt sich gut am Erfolg der Factset Research Systems ablesen. Das Software-Unternehmen profitiert dank seiner Datenbanken und Analyseplattformen seit Jahren vom weltweiten Analysen-Boom und die Aktie der Factset Research Systems Inc. (ISIN: US3030751057) wird mit einer durchschnittlichen Jahresperformance von 17 Prozent der Bezeichnung als Dauerläufer in jeder Hinsicht gerecht. Wie stark und wie kontinuierlich das Interesse nach Unternehmenskennzahlen in den letzten Jahren zugelegt hat, belegt allein das Umsatzwachstum von 920 Millionen US-Dollar (2014) auf zuletzt 2,01 Milliarden US-Dollar.

Ein weiterer Dauerläufer ist die Aktie der Moody’s Corp. (ISIN: US6153691059). Das auf Bonitätsnoten basierte Rating-Modell beschert dem Konzern eines der vielleicht sichersten Geschäftsmodelle der Welt. Denn nicht nur Unternehmen finanzieren sich über Fremdkapital: Die Schuldenlast nahezu sämtlicher Staaten wächst prächtig und die Nachfrage nach Krediten boomt! Die Investmentlegende Warren Buffett gehört übrigens zu einen der größten Aktionäre der Moody’s Corp. Weshalb die Wahl des Orakel von Omaha auf die Moody’s Aktie gefallen ist, und welche Alternativen sich in diesem Bereich auftun, verrät der zweite Teil unsere Serie Schlag den Buffett!

Kursreaktion nicht selten erzwungen

So weit, so schlecht. Die bisherige Bilanz im Für und Wider von Analysen fällt verheerend aus. Den zahlreichen Negativbeispielen stehen selbstverständlich auch Fälle gegenüber, in denen sich die Prognosen als korrekt herausgestellt haben und die Kursziele erreicht wurden. Exakt diese Prognosen zu identifizieren, dürfte jedoch ebenso viel Zeit wie die eigene Recherche in Anspruch nehmen. Und Glück! Immerhin existiert im angloamerikanischen (Web-)Raum eine Handvoll Webseiten, die die Zuverlässigkeit diverser Prognosen covern und zum Beispiel Analysten tracken. Hier gilt die Plattform Tipranks als ein First Mover.

Nicht nur das Thema Analystentracking zeigt, dass die Empfehlungen der Experten Beachtung finden. So stellen sich tatsächlich regelmäßig massive Kursbewegungen nach der Veröffentlichung eines Analystenkommentars ein. Die Gründe für das Vertrauen der Marktteilnehmer in diese Kommentare lassen jedoch aufhorchen, denn abseits der oben angeführten „Begleiterscheinungen“ von Sell-Side-Analysen stehen hinter den Kursreaktionen nicht selten Großinvestoren, die sich gezwungen sehen, einen bestimmten Wert zu kaufen beziehungsweise zu verkaufen. Viele Fondsmanager scheuen das Risiko einer Missallokation, besser gesagt deren Auswirkungen. Die Vorwürfe einer Fehlentscheidung, sowohl aufseiten des Vorgesetzten als auch aufseiten des Kunden, bewegen Händler immer wieder zu kurzfristigen Umschichtungen, die dann innerhalb von Minuten zu großen Kursbewegungen führen können.

Trader aufgepasst!

Neben skeptischen Fondsmanager halten mittlerweile zunehmend Trading-Systeme den Aktienmarkt im Griff. Nur wenige Sekunden dauert es, bis die ausgefeilten Programme News, Trends sowie Kursziele analysiert und dementsprechende Orders abgesetzt haben. Diese Entwicklung dürfte sich fortsetzen, bedenkt man die stetigen Verbesserungen dieser Robo-Trading-Systeme. Einer Umfrage von TD Markets zufolge doll der Markt für solche Systeme 2026 bei stolzen 52 Milliarden US-Dollar liegen.

Insbesondere große Finanzinstitute und Hedgefonds investieren stark in die Forschung und Entwicklung von automatisierten Handelssystemen, um einerseits Trends frühzeitig zu erkennen und andererseits Marktineffizienzen zu nutzen. Diese Systeme basieren oft auf komplexen Algorithmen und maschinellem Lernen, die übrigens auch den Strombedarf in den kommenden Jahren aufgrund der benötigten Rechenleistung ansteigen lassen dürften.

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Prognosen zufolge wird der Markt für autonome Fintech-Software, zu dem auch Robo-Trading-Systeme gehören, bis 2026 voraussichtlich über 52 Milliarden US-Dollar betragen. Diese Systeme können selbstverständlich auch Prognosen und darin enthaltene Kursziele analysieren und entsprechende Kauforders unmittelbar absetzen.

Last but least: Evotec, das „Tesla der Biologika“

Zugegeben, es mag zahlreiche weitere Beispiele für die Fehlbarkeit von Analysten, ihren Prognosen und Kurszielen geben. Die Kursentwicklung der Evotec SE Aktie (ISIN: DE0005664809) ist jedoch in mehrfacher Hinsicht als eine Sternstunde der Analysten-Geschichte anzusehen. Der in Hamburg ansässige Pharmakonzern mag mit seiner Technologie einen wichtigen Beitrag in der Medikamentenentwicklung leisten. Im Aktienkurs jedoch spiegelt sich dieser Beitrag keineswegs wider: Seit drei Jahren befindet sich die Evotec Aktie in einem nahezu kontinuierlichen Abwärtstrend. Derweil notieren die Wertpapiere des Forschungsspezialisten bei rund 8,40 Euro und somit 80 Prozent unter ihrem Hoch aus dem Jahr 2021.

1-Jahres-Chart der Evotec Aktie in EUR. Quelle: Finanzen.net

Nichtsdestotrotz ist manch ein Experte äußerst positiv gestimmt für die Aktie der Evotec SE. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 20,79 Euro! Ein Aufwärtspotenzial von 149 Prozent. Im Juni 2023 attestierte die Citibank den Norddeutschen sogar ein Kursziel von 48 Euro. Aus heutiger Sicht macht dies eine Kursbewegung von über 470 Prozent! Ob die Evotec SE Aktie jemals diese Höhen erreichen wird?

Seit der Einstufung musste der Konzern aufgrund eines Hackerangriffs seine Produktion stoppen, herbe Umsatzeinbrüche und obendrauf den Abgang des langjährigen Vorstands Werner Lanthaler verkraften. Insbesondere letzterer Umstand sorgte für Unmut. Lanthaler musste im Januar 2024 aufgrund verdeckter Aktiengeschäfte seinen Posten räumen, wodurch zahlreiche Investoren der Evotec SE den Rücken kehrten. Zugegeben, der damals zuständige Analyst Peter Verdult konnte bei seiner Prognose Mitte 2023 weder Hackerangriff noch Insiderhandel vorhersehen. Doch die Tatsache, dass ebendiese Eventualitäten eine Prognose zunichtemachen können, bringt die Fehlbarkeit von Analysten auf den Punkt.

Kritischer als die Unmöglichkeit der Vorhersage von Hackerangriff/Insiderhandel ist das Trendfolgeverhalten Verdults zu sehen. Zum Zeitpunkt der Kaufempfehlung war ein Run auf Aktien, die von der Entwicklung künstlicher Intelligenz profitierten beziehungsweise profitieren könnten, zu beobachten. Die Idee, dass neue Algorithmen das Geschäftsmodell der Evotec SE beleben könnten, begeisterte offensichtlich Anleger und Analysten gleichermaßen.

Die schicksalhafte Ironie, die Verdults Gütesiegel mit sich bringen sollte, taucht erst im Rückspiegel auf. In seiner Analyse lobte der Experte die Evotec SE nämlich als das „Tesla der Biologika“. Der Vergleich war selbstverständlich positiv gemeint und sollte den Hamburgern einen ähnlichen First-Mover-Vorteil wie dem E-Auto-Pionier attestieren. Inklusive einer spektakulären Kursrallye! Die bittersüße Pointe: Die bis dato hervorragend gelaufene Tesla Aktie (ISIN: US88160R1014) geriet nur wenige Tage nach Verdults Lob unter Druck, korrigierte kräftig und verlor von ihrem Hoch im Juli 2023 bis in den April 2024 mehr als 50 Prozent an Wert. Nahezu den exakten Performance-Dämpfer erlitt auch die Evotec Aktie. Im Gegensatz zum Papier der Tesla Inc. halbierte sich die Evotec Aktie allerdings nochmals im April!

Fazit

Kursziele gehören zum Aktienmarkt wie das Amen in die Kirche. Analysten stehen mit ihren Prognosen bei vielen Anlegern nach wie vor hoch im Kurs. Doch die Preisziele für Indizes, Rohstoffe und insbesondere Aktien sind mit Vorsicht zu genießen. Die Komplexität der Faktoren und deren Wechselwirkungen erschweren jede Art von Kurszielsetzung, sodass mitunter die Prognose und weniger Fundamentaldaten oder Sondereffekte einen Wert Richtung Kursziel treibt. Stichwort „Selbsterfüllende Prophezeiung“.

Analysten können demnach ohne Frage Kurse bewegen und sind sich dieser Tatsache offensichtlich auch bewusst. Auch aufgrund dieses (Selbst-)Bewusstseins ist jedes Kursziel kritisch zu hinterfragen. Insbesondere sollten Anleger Empfehlungen in Sell-Side-Analysen skeptisch gegenüberstehen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich hinter den augenscheinlich gut gemeinten Ratschlägen eigennützige Interessen verbergen.

Ausschläge infolge von Kurszielanpassungen sollten demnach weder zum Kauf noch zum Verkauf einer Position bewegen. Ganz gleich, wie negativ oder positiv eine Aktie auf den Analystenkommentar reagieren mag! Im Zeitalter von Trading-Algorithmen und Robo-Trading-Systemen dürften Prognosen und Kursziele zwar an Bedeutung gewinnen und die Volatilität am Aktienmarkt sollte steigen. Die Präzision von Kurszielen bleibt dennoch illusorisch. Kursmarken mit teils mehreren hundert Prozent großen Spannen spiegeln in aller Deutlichkeit das Kernproblem von Prognosen wider: Im Endeffekt ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis ein Analyst ins Schwarze trifft. Demgegenüber steht für gewöhnlich eine Reihe an Mitstreitern, die nicht nur nicht ins Schwarze treffen, sondern den Bogen mit atemberaubenden Kurszielen gerne überspannen.

Sollten Sie Prognosen ignorieren? Nein! Prognosen können, sofern korrekt genutzt, tatsächlich einen Mehrwert bieten. Handfeste und schlüssige Argumente etwa können die Analyse eines Unternehmens stützen, insbesondere solche mit konträrer Meinung. Anders verhält es sich bei Kurszielen. Anleger mit dem Willen zum eigenständigen Investieren müssen Kursziele eines, wahrscheinlich keineswegs unparteiischen, Analysten zwangsläufig beim Kaufen und Verkaufen von Aktien ausblenden.

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Haftungsausschluss

Der Autor weist darauf hin, dass er keinerlei Gewähr für die Richtigkeit und Aktualität der im Text genannten Informationen gibt. Zudem besteht die Möglichkeit, dass er Aktien der erwähnten Unternehmen besitzt und/oder zu erwerben gedenkt, wodurch ein Interessenkonflikt gegeben sein kann. Wer also Anlageentscheidungen auf Basis der in diesem Beitrag genannten Angaben trifft, handelt auf eigene Verantwortung.

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